Genesis

Ich glaube sagen zu können, dass ich im Großen und Ganzen ein glücklicher Mensch bin.

 

 

Das liegt an mancherlei Aspekten meines Lebens, vor allem aber an der Tatsache, dass ich mit einem etwas anders funktionierenden Gehirn geboren wurde. So denke ich jedenfalls. In meinen Genen ist die Fähigkeit versteckt, aus Worten Bilder entstehen zu lassen. Diese angeborene Fähigkeit wurde von meinen Eltern zum Leben erweckt, weil sie mich von frühester Jugend an zum Lesen hingeführt haben.

 

Doch das allein war es nicht.  Ich kann auch auf eine Kindheit und Jugend zurückschauen, in welcher sich das Rad der Zeit noch eine Idee langsamer drehte als in unserer jetzigen Ära. Man hatte noch etwas mehr Muse ein Buch in die Hand zu nehmen und sich vom Geschriebenen in eine andere Welt entführen zu lassen. 

 

Ich wurde im November 1948 geboren und die Lebensbedingungen so kurz nach Ende des 2. Weltkrieges waren in ganz Deutschland zwar streng, aber der blassblaue Schimmer am Horizont muss wohl schon erkennbar gewesen sein.

 

Meine Mutter war eine junge Kriegerwitwe – ein Begriff, der in der heutigen Zeit wohl eine ganz andere Bedeutung haben mag als damals – und mein Vater ein Mann, der erst Ende seines zwanzigsten Lebensjahrs aus der russischen Ge-fangenschaft wieder zurück kehren durfte. Beide allerdings, sowohl meine Mutter als auch mein Vater mussten nach dem Krieg nicht nur neu beginnen, sondern sich auch in einer neuen Welt zu Recht finden. Mein Vater war als Kind deutscher Eltern im heutigen Serbien, in der Stadt Novi Sad geboren worden und ist später in Budapest in einem Internat zur Schule heran gereift. Mit siebzehn musste er allerdings Soldat werden. Meine Mutter stammte aus einer Handwerker- und Kleinstbauernfamilie, deren Wurzeln in Ungarn in der kleinen Stadt Bátaszék verankert waren.

 

Meine Eltern versuchten ihr Leben und ihre Zukunft in der neuen Heimat, in Deutschland also, durch harte Arbeit und Zuversicht zu meistern und unterschieden sich dadurch in Nichts von Millionen anderer Heimatvertriebener, nein, aller Menschen nach dem Krieg. Die Zeit und die Menschen in der neuen Heimat machten es ihnen oft nicht leicht, doch sie bissen sich durch.

 

Mein Vater, ein eher archaisch orientierter Mann, war der Meinung, dass eine Frau den Haushalt zu führen und die Familie zu versorgen hat und nicht im Dienst anderer Menschen arbeiten zu gehen. Das war seine Aufgabe. Allerdings machte er den Fehler in der Branche anzuheuern, die damals zwar das nahezu höchste Wachstumspotential aber auch die härtesten Arbeitsbedingungen bot. Er arbeitete als Maurer auf dem Bau, was zur Folge hatte, dass er über eine gan-ze Reihe von Jahren spätestens Ende November, Anfang Dezember eines jeden Jahres arbeitslos wurde, um erst im folgenden Frühjahr wieder eingestellt zu werden. Das war damals die Herangehensweise. Man ging Stempeln. Es gab genug Männer, die diese Zeit nutzten, um ihr knapp bemessenes Stempelgeld in den Kneipen zu lassen, mein Vater gehörte nicht zu diesen Männern.

 

Was hat das alles mit mir zu tun?

 

Nun, mein alter Herr war ein familienbewusster Mensch. Anstatt mit den Kollegen an den Wirtshaustischen zu hocken, Karten zu spielen, Bier zu trinken und über alles Mögliche zu räsonieren, nutzte er die Wintermonate unter anderem auch dazu, sich verstärkt mit mir, seinem Erstgeborenen zu beschäftigen. Wir unternahmen zusammen lange Spaziergänge durch die Winterlandschaft und bei diesen Spaziergängen ließ er mich erleben, wie ein Mensch mit Worten Bilder malen kann. Mein Vater war ein einfacher Mensch ohne nennenswerte Bildung. Er wurde mit siebzehn Jahren zum Wehrdienst einberufen, damit war die Zeit des Lernens von Schulwissen für ihn vorüber. Trotzdem war er ein genialer Erzähler. Ein Mensch, dessen Fantasie nie versiegte und der es verstand, mir, dem noch nicht schulpflichtigen Sohn mit Worten eine Welt zu erschließen, die es vielleicht so nicht gab, die es aber – dessen war ich mir absolut sicher – durchaus geben konnte.

 

Mein Vater erfand Märchen.

 

Aber nicht die klassische Form, wie sie von H. C. Andersen oder den Gebrüdern Grimm verbreitet worden waren. Er erfand Märchen, die einen sehr realen Bezug zur „Istwelt“ besaßen und er erfand diese Märchen mit wachsender Begeisterung und schier unerschöpflichem Einfallsreichtum.

 

Seine Erzählungen, seine Märchen führten mich in eine Welt, die meinen kleinen Verstand beflügelten und wachsen ließen. Sie machten mich sensibel für Dinge und Vorgänge der Natur und des Umgangs mit Tieren. Wenn man mich heute fragt, wie es möglich war, dass ein eigentlich einfacher Mann eine solche Wortgewalt entwickeln konnte, eine Erzählkunst, die mich, seinen Sohn, vollständig in seinen Bann zog, so kann ich darauf immer noch keine Antwort geben.

 

Oft waren seine Märchen und Geschichten so herzergreifend, dass ich weinen musste. Dann nahm er mich in die Arme und tröstete mich. Andere Male war sie so, dass ich von ganzem Herzen lachen konnte. Dann lachte er mit mir und wer uns beide in den Winterwäldern hätte herum wandern sehen, er würde uns vielleicht für ein klein wenig meschugge gehalten haben.

 

Oft war es die Form eines Baumes oder der Schatten einer Wolke, die eine Geschichte auslöste. Manchmal war es auch ein ungewöhnlich geformter oder seltsam dicht bemooster Stein oder ein verkrüppelter Zweig an einem kahlen Strauch. Der Fußabdruck eines Tiers im Schnee führte eine Wendung in den Geschichten herbei, mit der wir beide nicht gerechnet hatten und ein Sonnenstrahl, der in einem bestimmten Winkel durch die Spitzen der großen Fichten fiel und ein mystisch wirkendes Licht entstehen ließ, löste vielleicht eine ganz neue Geschichte aus.

 

Es waren dies sehr glückliche Tage in meinem jungen Leben.

 

Leider musste ich später begreifen, dass nichts auf dieser Welt von Dauer sein kann. Es machte mich sehr traurig, dass bei meinem Vater diese Macht der Worte, diese Lust am Erzählen und Fantasieren immer mehr versiegte, je älter ich wurde. Auch die Tatsache, dass da plötzlich noch ein Bruder war und die Familie durch die Aufnahme der beiden Großmütter einen Umfang annahm, der ihm immer weniger Spielraum ließ, führte dazu, dass unsere Wanderungen spärlicher wurden und zuletzt ganz aufhörten, kaum, dass ich eingeschult worden war.

 

Doch der Grundstein für meine eigene Phantasie, für meine eigene Erzählbegeisterung war längst gelegt.

 

Eines der Märchen, die mein Vater für mich erfand, war die Geschichte des weißen Wolfes, der in den Bergen des Balkans hauste und den die Menschen als Geisterwolf fürchteten und jagten. Später erfuhr ich, dass er die Geschichte zwar nicht vollständig erfunden hatte, sondern dass er sie auf Märchen aus seiner eigenen Kindheit aufgebaut hatte. Doch mit absoluter Sicherheit weiß ich, dass dieser Beli Wuk mir ganz allein gehörte, denn nie zuvor ist eine Geschichte so verändert, ausgebaut und verziert worden, wie gerade diese eine. Beli Wuk war meine Lieblingsgeschichte, ich bekam nie genug von seinen Abenteuern. Beli Wuk ist während unserer Wanderungen unzählige Male gestorben, um beim nächsten Erzählen wie aus dem Nichts wieder ins Leben zurück zu kehren und neue, spannende Abenteuer zu erleben. Erst viele Jahre später begann ich zu ahnen, dass dies vielleicht gar nicht die Geschichte eines einzelnen Wesens war, sondern einer ganzen Reihe gleichartiger oder einander sehr ähnlicher Wölfe. Viele Details verstand ich damals nicht, erst in der Erinnerung begann ich zu begreifen, dass auch in dieser, wundersamen Geschichte ein guter Teil dessen versteckt war, was tatsächlich so hätte sein können.   

 

Ich habe zwar ein an- und für sich ganz ordentliches Gedächtnis, aber dennoch bin ich mir ganz sicher, dass die Geschichte, die ich aus den Eindrücken meiner Kindheit heraus nun schreibe, nicht mehr sehr viel mit dem Komplex an Märchen zu tun hat, welchen mein Vater in unzähligen Fortsetzungen für mich erfand. Aber er hat den Grundstein für meine Geschichte gelegt. Deshalb kann ich diese Geschichte niemand anderem widmen als nur ihm, meinem Vater Stefan Nikolaus Jedele.

 

Aber halt, nein. Ich widme sie auch meinem eigenen Enkel.

 

Er muss in einer Zeit aufwachsen, da sein Vater sich nur durch höchste Selbstdisziplin dazu bringen kann, noch jede Woche ein paar Stunden für den Sohn abzuzwacken. Auch wächst er in einer Zeit auf, in welcher der Wahn der Digitalisierung selbst vor Kinderbüchern nicht Halt macht. Mir fehlt das Verständnis, wofür es gut sein soll, dass ein digitaler Dachs unseren Kleinen die Welt erklärt. Dies könnten Eltern sehr viel besser, aber natürlich ohne den Download von Erklärungsdateien. Ein Buch, bei welchem jede Seite mehr als einen Euro kostet kann nur noch für den Verleger gut sein. 

 

Ich widme also diese Geschichte auch meinem Enkel und hege dabei die Hoffnung, dass er möglichst früh den Ab-sprung von derlei obszönen Machwerken findet. In der Hoffnung, dass er schon möglichst früh begreift, dass die Kraft des eigenen Geistes zwar nicht immer einfach zu kontrollieren ist. Dafür aber ist sie in ihrer Vielfalt jedem künstlich erzeugten Unterhaltungsprodukt turmhoch überlegen.

 

Ich aber erinnere mich mit dieser Geschichte an einen Menschen, der mich geliebt hat und ich will einen Teil dessen, was er in mir als Saat ausgelegt hat, zurückgeben.